Der dynamische Austausch von Informationen und die unkomplizierte Möglichkeit des Ortswechsels in der globalisierten Welt macht eine Neudefinition von Migration notwendig. Die inzwischen etablierten theoretischen Konzepte Diaspora, Dritter Raum, Transnationale Migration und Netzwerk ermöglichen eine alternative empirische Untersuchung des Phänomens. Sie stellen die Gemeinschaft der Migranten in den Mittelpunkt der Analyse. Permanente Kommunikation, symbolische Interaktion und ethnische Kolonie sind dabei wirksame Dimensionen der weltumspannenden soziokulturellen Organisation.
Die arabischen Einwanderergemeinschaften aus dem arabischen Maschrek in Brasilien und den USA bildet über regelmäßige Routinen, symbolische Praktiken und feststehende Diskurse spezifische Lebenssphären aus, die durch weltweite verwandtschaftliche und gemeinschaftliche Beziehungen genährt werden. Zahlreiche Publikationen thematisieren arabischstämmige Bevölkerungsgruppen aus der Levante, die sich in Einwanderungsländern der Neuen Welt niederließen. Der Großteil der Aufsätze beschreibt die Entstehung von arabischen Gemeinschaften in verschiedenen Ländern der Welt aus historischer Perspektive. Die Vereinigten Staaten, Brasilien und Argentinien waren die Hauptziele der palästinensischen, libanesischen und syrischen Migranten. Während die Migration nach Brasilien seit den 1950er Jahren stark nachlässt, hält sie in die USA bis heute an. Besonders interessant ist daher der Vergleich zwischen den unterschiedlichen Dynamiken Brasiliens, als ehemaliges Migrationsziel des beginnenden 20. Jahrhunderts, und den USA, in der die Migration bis heute anhält. In Studien, die sich mit der Integration der arabischen Migranten beschäftigen, wird oftmals von einer ökonomischen Assimilation bei gleichzeitiger kultureller Eigenständigkeit gesprochen. Die Verbindungen der arabischen Migranten und ihrer Nachfahren in den untersuchten Aufnahmeländern mit Familienmitgliedern im Herkunftsland und anderen Orten der Welt sind komplex und nicht mit einem singulären Konzept fassbar (vgl. Escher 1997, 2000, 2004). Die arabischen Lebenssphären in verschiedenen Ländern der Welt müssen daher von einer theoretischen Perspektive aus betrachtet werden, die es erlaubt, Migrations- und Vergesellschaftungsprozesse in Zeiten der Globalisierung zu erfassen (vgl. Escher 2006, 2008). In der globalisierten Welt überwinden diese Gemeinschaften Grenzen; räumliche Distanz verliert an Bedeutung und die segmentär organisierten Strukturen reichen über die Wohnorte in den Aufnahmeländern hinaus in zahlreiche andere Länder der Welt. Mit Hilfe des Gesellschaftskonzepts der Sphären wird versucht, die sozial verflochtenen und räumlich geteilten Gemeinschaften jenseits der bekannten sozialwissenschaftlichen Konzepte zu fassen und dabei die kulturelle Differenz der Lebenssphären der Gemeinschaft in unterschiedlichen Ländern zu thematisieren. Mit einem Methodenmix sollen empirische Untersuchungen in den Quellländern Syrien, Libanon und Palästina sowie in den Zielländern Brasilien und USA durchgeführt werden.
Zunächst ergeben sich folgende Forschungsfragen:
- Wie gestalten die arabischen Gemeinschaften ihre globalen Lebenssphären?
- Wie entstehen und funktionieren arabische Lebenssphären und in welche sozialen, kulturellen und politischen Gefüge sind sie eingebettet?
- Welche Rolle spielen Orte für die globalen Lebenssphäre der arabischen Bevölkerung?
Die Länder Brasilien und die USA eignen sich auch deshalb besonders zur Durchführung der Studie, da hier zahlenmäßig große arabische Gemeinschaften existieren. Die Gemeinschaften sind kulturell, sozial, ökonomisch und politisch sehr aktiv und über zahlreiche Staaten der Erde vernetzt. Dies wird durch die Gründung zahlreicher arabischer Institutionen und Organe wie Radiostationen und Zeitungsverlage sowie Internetpräsenz in den jeweiligen Ländern deutlich. Aufgrund der modellhaften Entwicklung der arabischen Gemeinschaft in diesen Ländern und ihrer gleichzeitig hohen medialen Präsenz, können die Prozesse und Strategien der globalen Lebenssphären sehr gut exemplarisch dargestellt werden. Gleichzeitig öffnen sich aus dem Vergleich unterschiedlicher Lebenssphären in unterschiedlichen Staaten neue Perspektiven zur komparativen Erforschung der arabischen Migration.
Unter der Anleitung des Projektleiters wurden im Rahmen von Abschlussarbeiten bereits empirische Untersuchungen über arabische Gemeinschaften in Mexiko, Trinidad und Tobago, Australien, Chile, Brasilien und Ecuador durchgeführt, momentan werden zwei Dissertationen über syrische und libanesische Gemeinschaften in Argentinien und Westafrika betreut.
Projektbeginn:
Januar 2010 (Förderung der Förderlinie 1 der JGU)
DFG-Projekt „Libanesische globale Dorfgemeinschaften: Praktiken zur Bildung und Erhaltung globaler Gemeinschaften“ ab 2013
Projektleiter: Prof. Dr. Anton Escher
Projektmitarbeiter:
Dr. rer. nat.Tobias Boos
Dipl. Geograph Björn Zimprich
Kooperationspartner:
Prof. Dr. Paul Tabar
Associate Professor of Sociology
Department of Social Sciences
Director of the Institute for Migration Studies
Lebanese American University